Etwas nervös ist sie heute schon, die kleine Hexe. Zwar hat sie bereits drei Viertelliter Rosmarinessenz vermischt mit Lavendelöl getrunken, aber es ist das erste Mal, dass sie an der Sitzung des grossen Hexenrates teilnehmen darf, und das im Alter von erst dreihundertneunzig Jahren. Stolz blickt sie in den matten Spiegel, um sich zum siebenundachtzigsten Mal zu überzeugen, dass ihr Aufzug auch wirklich hexenwürdig ist. Abgesehen davon, dass sie heute tatsächlich sehr, sehr scheusslich aussieht, wäre ihr ohnehin keine Zeit geblieben, etwas an ihrer Garderobe zu ändern. Deshalb antwortet sie dem frisch angefaulten Besen, der bereits ungeduldig vor der Türe raschelt und ans Aufbrechen mahnt, mit einem unbeschreiblich hässlichen Wort, das aus der Hexensprache über setzt etwa heisst: „Ja, ja, lieber Besen, ich weiss, dass wir spät sind. Doch mit deiner liebenswürdigen Hilfe werden wir sicher zur rechten Zeit ankommen“. Oder so ähnlich.
Die kleine Hexe erscheint tatsächlich zur Zeit. Mit dem letzten Glockenschlag rauscht sie auf dem Blockberg an. Und hier überstürzen sich die Ereignisse derart, dass sich eine genaue, zeitlich richtige Folge nicht mehr schildern lässt. Deshalb sei erzählt, was als Resultat der Sitzung herausgekommen ist: Die kleine Hexe ist mangels einer besseren Kandidatin (was sie jedoch nicht weiss) einstimmig in die Hexenzunft aufgenommen worden.
Soviel zur Vorgeschichte und nun zum Abenteuer:
ABENTEUER AUF DEM BLOCKSBERG
Mit stolzgeschwelltem Buckel reitet die kleine Hexe nach Hause. Sie hat noch nicht begriffen, was ihr geschehen ist und was es heisst, Mitglied im Rat der neunhundert Hexen zu sein. Vielleicht ahnt sie, welche Einflussmöglichkeiten sie auf die allgemeine Hexerei haben könnte. Aber als unerfahrenes Neumitglied nimmt sie sich vor, erst einmal zu schweigen und zu beobachten. So vergeht das erste Jahrhundert. Einmal hat sie sich in der Zwischenzeit zu Wort gemeldet. Naiv wie sie nun einmal ist, glaubte sie damals, die Abstimmung über die beste Zeit zum Hexen sei aufgrund der vorliegenden Lagebeurteilung negativ herausgekommen. Doch weil sie immer wieder feststellt, dass die Unterlagen zu wichtigen Entscheidungen jeweils erst kurz vor der Abstimmung eingesehen werden können und damit keine Zeit zum gründlichen Studium verbleibt, beginnt die kleine Hexe den Ablauf genauer zu beobachten. Mit den Jahren merkt sie aus dem Verlauf der Gespräche, dass der Hexenrat nicht wie sie meint, eine Einheit gleichgesinnter Hexen ist, die das Wohl der Hexenzunft im Auge hat, sondern, dass es sich um eine Interessengemeinschaft handelt, die nur ein einziges Ziel verfolgt: Nämlich, zur Wahrung der Macht, im eigenen Interesse alles so zu belassen wie es ist und im Übrigen so zu tun, als ob man eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hätte. Seither lässt sie sich nicht mehr überraschen. Wenn sie merkt, dass das Ergebnis schon vor der Abstimmung abgesprochen, ihre Meinung dazu jedoch nicht eingeholt worden ist und sie demnach zu den Aussenseitern gehört, nimmt sie es nicht mehr so tragisch. es wurmt sie jeweils schon, zugegeben. Aber die Zeit arbeitet zum Glück für sie.
Die uralte Oberhexe zeigt seit einiger Zeit Abnützungserscheinungen, wie die kleine Hexe zu bemerken glaubt, und der engere Kreis der einflussreichsten Althexen sass beim Anflug zu den wiederkehrenden Beratungen auch schon weniger wackelig auf den Besen, so dass sich eine Änderung für die kleine Hexe in den nächsten zweihundert Jahren abzeichnet. So kommt es denn auch. Zur Überraschung der kleinen Hexe trifft eines Jahres die persönliche Krähe der Oberhexe bei ihr ein. Sie überbringt Grüsse und eine Botschaft der angeschlagenen Althexe, die in der Anfrage gipfelt, ob nicht „wegen der Blutauffrischung“, „wegen der Kontinuität“ und „den Jungen eine Chance geben“ und „ins zweite Glied zurücktreten“ und „abrakadavra…“ kurz, ob sie, die kleine Hexe, eventuell gewillt wäre, sich für eine Wahl zur Oberhexe zur Verfügung zu stellen?